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Oft haben wir schon früh im Leben gelernt, dass es wichtig ist «stark zu sein». Was damit meist gemeint ist, ist: standhaft, belastbar, unbeirrbar oder unerschütterlich zu sein. Wie ein Turm aus Stein, der alles trägt, der immer mithalten kann und dem nichts etwas anhaben kann.
Doch mit der Zeit zeigt sich: Diese Art von Stärke hat ihren Preis. Ein Turm mag vieles aushalten, doch wenn die Last zu gross wird, bekommt sein starres, festes Material tiefe Risse und bricht ein – meist plötzlich und endgültig. Ein junger, biegsamer Baum hingegen beugt sich im Sturm, verliert dabei vielleicht auch mal den einen oder anderen Ast, doch er richtet sich wieder auf. Und wächst weiter – oft sogar kräftiger als zuvor.
Dieser einfache Vergleich erinnert uns an etwas, das in unserem Leben leicht in Vergessenheit gerät: Wahre Stärke zeigt sich nicht in dieser Definition des «Stark seins» als ein unbedingtes Durchhalten oder Durchboxen, des immer «noch mehr auf unsere Schultern Ladens» bis wir zusammenbrechen. Sie zeigt sich darin, seine Kräfte und Grenzen zu kennen und im richtigen Moment vermeintlich Schwäche zu zeigen und flexibel zu werden. Vielleicht bedeutet diese Flexibilität gerade etwas loszulassen, oder die Last mit anderen zu teilen und aus dem Einzelkampf ins Vertrauen zu kommen?
Um bei unserem Vergleich mit dem Baum zu bleiben, könnte dies das Bild eines Baums sein, dessen Äste von der Last des ersten, nassen Schnees durch eine kräftige Windböe befreit werden und wieder entlastet nach oben schnellen; oder auch das Bild des Baumes, der sich mit seiner Schnee-Last bis zum nächsten Sonnenschein beim Nachbarbaum anlehnt.
Ein Turm steht meist allein auf weiter Flur, doch ein Baum gedeiht am besten in einem Wald mit anderen Bäumen. In intensiven Zeiten ist es viel klüger und stärker, mit der «Baum-Einstellung» weiterzumachen, als mit der «Turm-Einstellung»: unnötige Last abzuschütteln, sich beim Nachbarn anzulehnen oder sich über das Wurzelmyzel von den Nachbarn mit Zuckerlösung versorgen zu lassen, anstatt Haltung zu bewahren und dabei kaputt zu gehen. Fürsorge, Loslassen und Vertrauen, anstatt alleine auszuharren – diese Weisheit lebt uns die Natur vor.
«Mut ist, sich dem zu stellen, wer wir sind, nicht wer wir sein sollen» schreibt Brené Brown, die US-amerikanische Sozialforscherin und Autorin, die bekannt ist für ihre umfassende Arbeit zu Verletzlichkeit, Mut und Authentizität.
Beim genauen Hinschauen ist dieser Moment, in dem wir um Hilfe bitten und unsere Verletzlichkeit und Menschlichkeit anerkennen sogar doppelt stark. Wir stehen zu dem, wer wir sind und gleichzeitig schenken wir dem Gegenüber unser Vertrauen, dass sie/er stark ist und uns ein Stückchen mittragen kann. Das kann für beide Seiten unglaublich bestärkend sein, denn es bedeutet: Ich vertraue dir. Ich glaube daran, dass du mich tragen kannst – so, wie ich dich trage, wenn du mich brauchst.
Wenn wir uns in dieser Authentizität zeigen können, schenken wir uns und dem Gegenüber ein grosses Stück Kraft, Liebe und Menschlichkeit, die Botschaft ich sehe dich als Mensch, der du bist und ich zeige mich dir als Mensch, der ich bin.
Vielleicht magst du in diesen spätherbstlichen Tagen einmal still in dich hineinspüren: Wem kannst du dich wirklich anvertrauen, wenn das Leben stürmt? Und für wen bist du vielleicht schon längst ein solcher «Baumnachbar», auf den in stürmischen Zeiten Verlass ist?
Wir wünschen dir einen stark-verletzlichen Monat, voll echter Menschlichkeit und gegenseitiger Verbundenheit.
Herzlichst Dein gesund.ch-Team
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